Stellungnahme AGOT zum 11. Kinder- und Jugendbericht NRW

Aufgrund aktueller gesellschaftlicher Wandlungsprozesse, in deren Zusammenhang auch die Bedeutung der Flucht- und Migrationsbewegungen und der große Anteil an Schutzsuchenden der vergangenen Jahre zu sehen sind, wurde auch der Bereich der Offenen Kinder- und Jugendarbeit immer wieder vor neue Herausforderungen gestellt. Darauf reagierend haben sich die Träger und Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit in den vergangenen Jahren intensiv für eine nachhaltige Inklusion von jungen Menschen im Kontext von Flucht und Migration eingesetzt. Mit Blick auf die Erstellung eines 11. Kinder- und Jugendberichts des Landes NRW sind neben der grundsätzlichen Reflexion des Integrationsbegriffs insbesondere die Bedeutung von gesellschaftlicher Teilhabe sowie die Partizipation von Kindern und Jugendlichen im Kontext von Flucht und Migration zu berücksichtigen. Mit dieser schriftlichen Stellungnahme kommen wir der Bitte des MKFFI nach, im Anschluss an das Fachgespräch am 18.12.20 die dort gestellten Fragen noch einmal schriftlich zu fixieren. Für die AGOT NRW haben Sarah Löhl und Sebastian Kolkau teilgenommen.

Die Arbeitsgemeinschaft Offene Türen Nordrhein-Westfalen e.V. (AGOT-NRW) hat in den Jahren 2016 bis 2020 das Rahmenprojekt „Vielfalt – wir leben sie!“ (vormals Feuerwehrtopf) durchgeführt. In diesen fünf Jahren erreichten wir ca. 60.000 Kinder und Jugendliche in 702 Einzelprojekten. In den dazugehörigen Projektdokumentationen wird die Entwicklung vom „niederschwelligen Projekt mit dem Charakter der Willkommenskultur“ zum „nachhaltigen inklusiven Projekt“ mit gesellschaftspolitischer Bedeutung – über die Offene Kinder- und Jugendarbeit hinaus – deutlich.

Im Sinne von gesellschaftlichen Veränderungen changieren auch die Handlungsbedarfe für Mitarbeiter*innen und Besucher*innen der Projekte stetig, und so lassen sich auch differenzierte Positionen in der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen im Kontext von Flucht und Migration in dieser Legislaturperiode und insbesondere seit 2017 herausstellen.

Wie hat sich die Integration von jungen Geflüchteten seit 2017 bzw. in dieser Wahlperiode insgesamt entwickelt?

Kinder und Jugendliche im Kontext von Flucht und Migration sind keine homogene Gruppe, wie auch im Projekt „Vielfalt – Wir leben sie!“ sichtbar wird. Die Entwicklungen und Erfahrungen Einzelner sind vielfältig. Seit 2017 bis heute sind Bleibeperspektiven, Fluchtursachen, Zuwanderung, Bildungs-stände und Diskriminierungserfahrungen unterschiedlich und müssen immer wieder kontextbedingt bedacht und reflektiert werden. Bereits von 2017 an haben wir uns bemüht, anstelle des Begriffs der Integration den Begriff der Inklusion zu benutzen und zu leben. Der Begriff der Integration ist stets mit besonderen Anforderungen verbunden und wurde bzw. wird dahingehend von uns kritisch reflektiert. Er birgt, und das haben die vergangenen Jahre gezeigt, grundsätzlich die „Gefahr“ eines Gefühls von „niemals erreichen können“ und verunmöglicht damit die Bedeutung der Anerkennung von Vielfalt und Differenz, die im Mittelpunkt dieser Auseinandersetzung mit dem Blick auf die Entwicklung dieses Themenkomplexes stehen sollte.

Im aktuellen Projektjahr 2021, das den Themenschwerpunkt „Miteinander vielfältig sein“ hat, versuchen wir dieser Diskussion gerecht zu werden, indem wir von „Desintegration“ als Weiterentwicklung zur nachhaltigen Inklusion sprechen und dadurch die Bedeutung von gegenseitiger Anerkennung, wie sie auch im Mittelpunkt der Vielfalt-Projekte und der offenen Arbeit steht, zu vermitteln (Vgl: Czollek, Max: Desintegriert euch!, btb, München 2020). Der Begriff der Desintegration nach Max Czollek bedeutet bezogen auf Jugendarbeit die Weiterentwicklung des inklusiven Ansatzes: Ein Raum der Anerkennung, in dessen Mittelpunkt die Selbstwirksamkeit steht. ‚Desintegration‘ umfasst in diesem Kontext die Vorstellung eines gesellschaftlichen Miteinanders, in der es nicht um die Beschreibung von Zielgruppen geht. Inklusion ist, und auch das haben die letzten Jahre im Bereich der Offenen Kinder- und Jugendarbeit gezeigt, kein einseitiger Weg, sondern auch ein großer Gewinn für die „aufnehmende Gruppe“.

Verstärkt wurde in unseren Projekten und im Austausch mit Fachkräften, Trägern und Kindern und Jugendlichen insbesondere in den letzten Jahren sichtbar, dass der Begriff der „Integration“ vor allem die Erwartungen einer Mehrheitsgesellschaft an Kinder und Jugendliche im Kontext von Flucht- und Migration abbildet und die gegenseitige Herausforderung, als Aufgabe aller Seiten vernachlässigt. Mit Blick auf die Erfahrungen der letzten Jahre zeigte sich, dass die Kinder- und Jugendarbeit zu eben jener Desintegration und Inklusion und einem Gefühl des Miteinander einen großen Schritt beigetragen hat. Während zu Beginn junge Geflüchtete und Zugewanderte in sogenannten IFÖ-Klassen separiert wurden/werden, konnten und können sie sich in den Projekten der Kinder- und Jugendarbeit als direkten Teil der Gemeinschaft erfahren, neue Freund*innen finden und weiterführende Unterstützung erfahren. Daraus resultierend übernehmen immer mehr Jugendliche im Kontext von Flucht und Migration aktiv eigene Aufgaben in der Kinder- und Jugendarbeit. Durch die stetige Weiterentwicklung des Vielfalt-Projektes und der langjährigen Arbeit miteinander werden sie z.B. Helfer*innen, gestalten das Angebot mit und erlangen die JuleiCa und den Status als Gruppenhelfer*innen (Vermittler*innen, Übersetzer*innen für Eltern, Freunde usw.) und bringen sich in die Planung und Organisation der Projekte ein. Berücksichtigt werden soll auch, dass ein großer Teil Kinder und Jugendlicher im Kontext von Flucht und Migration in ihrer Heimat eher zur Mittel- oder oberen Mittelschicht gehören, denn nicht immer ist Flucht leistbar, und Bildung spielt eine große Rolle. Die Beweggründe für das Verlassen des Heimatlandes sind vielfältig (Krieg, Bürgerkrieg, Diskriminierung, Ausgrenzung, etc.). Gemeinsamer Wunsch ist ein Streben nach besseren Lebensbedingungen. Die Inklusion erfolgt auch in diesem Zusammenhang oft über die Kinder- und Jugendarbeit. Raum geben, Demokratieförderung und Anerkennung entwickeln sich aus einem Verständnis von Inklusion von Kindern und Jugendlichen. Die Verbindlichkeit der Teilnehmer*innen und die Vermittlung der Bedeutung von Kontinuität stellt sich als große Herausforderung dar. Die Wanderbewegungen durch Wegzug, Umzug, Abschiebung, etc. und daraus resultierend auch die Problematik einer langfristigen Anbindung an eben jene geschützten Bereiche für Kinder und Jugendliche sind eine große Herausforderung für die nachhaltige Wirkung der Projekte. Mit der Problematik der Verbindlichkeit zeigten sich auch organisatorische Hürden.

In der OKJA entwickelt sich die Inklusion von Kindern und Jugendlichen im Kontext von Flucht und Migration stetig weiter. Kinder und Jugendliche äußern großen Handlungsbedarf in anderen Lebensbereichen z.B. im Bereich der Asylberatung, der Suche nach Ausbildungsplätzen etc. Dies fordert Mitarbeitende immer wieder heraus, da sie oft als einzige Ansprechpartner*innen von Kindern und Jugendlichen im Kontext von Flucht und Migration fungieren.

Grundsätzlich wird in der Darlegung einer besonderen Situation von Kindern- und Jugendlichen im Kontext von Flucht und Migration ein besonderes Spannungsfeld sichtbar und eröffnet folgende Fragen: Wie lassen sich Ungleichheiten und Benachteiligungen darstellen ohne Kinder und Jugendliche mit Bezug zu bestimmten Zielgruppen im Sinne des „Othering“ zu benennen?

Rassismus und Ausgrenzung sind für viele Kinder und Jugendliche leider noch immer und verstärkt in den letzten Jahren eine tägliche Alltagserfahrung und stellen sich auch innerhalb der Gruppe „junge Geflüchtete und junge Zugewanderte“ als problematisch heraus. Und auch an dieser Stelle gilt es zu differenzieren. Kinder und Jugendliche aus Syrien machen hier andere Erfahrungen als z.B. Kinder und Jugendliche, die zur Gruppe der Sinti und Roma gehören. Schulungen für Mitarbeiter*innen und ehrenamtliche Helfer*innen sind erfolgt, aber auch noch weiter notwendig, um für verschiedene Erscheinungsformen von Diskriminierung zu sensibilisieren und damit auch im Sinne von Empowerment, Powersharing und „Miteinander vielfältig sein“ agieren zu können.

Wie beurteilen Sie Möglichkeiten und Grenzen der Partizipation und Mitbestimmung von Kindern und Jugendlichen, die als junge Geflüchtete in Nordrhein-Westfalen leben?

In der Beurteilung der Möglichkeiten und Grenzen der Partizipation und Mitbestimmung von Kindern und Jugendlichen, die als junge Geflüchtete in Nordrhein-Westfalen leben, gilt es einen Blick auf die Verhältnisse der sozialen Ungleichheit zu werfen. Ein großer Teil der Kinder und Jugendlichen mit Fluchthintergrund lebt in Haushalten mit einem geringen Einkommen (Leistungen nach Asylleistungsgesetz, Hartz IV, nur Kindergeld). Partizipation ist in diesem Kontext sozial-kulturelle Teilhabe an Gesellschaft, die Verfügung über sozial relevante Ressourcen und die Möglichkeit der sozialen und kulturellen Wirksamkeit. In der wissenschaftlichen Fachliteratur, und teilweise auch in gesellschafts-politischen Stellungnahmen wird die gleichberechtigte Partizipation von Personen mit Migrationshintergrund an den Strukturen der aufnehmenden Gesellschaft, die Anerkennung ihrer transnationalen Mehrfachzugehörigkeit sowie ihre selbstverständliche gesellschaftliche Zugehörigkeit als Kernelemente der Integration dargestellt. Die Möglichkeiten der Partizipation am gesellschaftlichen Leben sind daher zumeist nur gering gegeben. Viele Dinge im gesellschaftlichen Raum sind mit Kosten verbunden und zumeist nicht niedrigschwellig angelegt. Die verschiedenen Förderprogramme, insbesondere für die Kinder- und Jugendarbeit, können diesen Bereich zu einem gewissen Teil auffangen und ermöglichen gemeinsame und abwechslungsreiche Aktionen, Ausflüge, Freizeiten und Maßnahmen, an denen alle Kinder und Jugendliche unabhängig von der finanziellen Familiensituation teilnehmen können. Dabei spielt auch die Förderung von Stärken und das Zurückgreifen auf Ressourcen eine große Rolle. In den Vielfalt-Projekten konnte mit Blick auf die Bedeutung von Partizipation ein

Raum für das eigene aber auch gemeinsame Entwickeln gegeben werden. Musik und Kunst, der Zu-gang zu Materialien, Kunsträumen und Aufnahmestudios spielen in diesem Kontext eine große Rolle. Eben jene frei zugängliche Vielfalt an Möglichkeiten schafft die Bühne für gegenseitige Fürsprache.

Und doch gibt es weiterhin viele Herausforderungen: Individuelle Bedürfnisse und Wünsche sind weiterhin nur schwer umzusetzen. Das für Kinder und Jugendliche oft so wichtige „Mitreden und Mithalten“ bei beispielsweise Smartphones oder Konsolen-Spielen wird durch das Fehlen finanzieller Ressourcen unmöglich. Mit Blick auf die oben angedeutete Problematik, die mit einer klassischen Verwendung des Integrationsbegriffs einhergeht, sind diesem auch Machtverhältnisse und Erwartungen der Mehrheitsgesellschaft impliziert. Eben jene begrenzen die Potentiale der Partizipation und Mitbestimmung, denn Integration wird oftmals als einseitig zu erbringende Leistung von Menschen im Kontext von Flucht und Migration für die Mehrheitsgesellschaft betrachtet. Auch soziale Ungleichheit, Wissensvorsprung, die ungleiche Verteilung der Problemlagen und Herausforderungen durch Ansiedlung von Menschen im Kontext von Flucht (Unterbringungen am Stadtrand und/oder in bereits benachteiligten Quartieren) und damit verbundene Ein- und Ausschlussprozesse haben Einfluss auf die Möglichkeiten der gesellschaftlichen Partizipation von Kindern und Jugendlichen mit Fluchthintergrund.

Der offenen Kinder- und Jugendarbeit gelingt eine Mitbestimmung der Kinder- und Jugendlichen mit Flucht- und Zuwanderungserfahrung. Sie können in den Einrichtungen mitentscheiden, Wünsche äußern und aktiv mitgestalten. Eine Beteiligung in formellen Mitbestimmungsgremien (z.B. Kinder- und Jugendparlament) gestaltet sich schwieriger. Oft überfordern die formellen Regeln und die relativ hohen Sprachniveaus junge Menschen, die noch nicht lange in Deutschland leben. Die Hürden einer Teilnahme sind hier deutlich höher als in der Kinder- und Jugendarbeit. Hier kann eine Beteiligung nur gelingen, wenn eine pädagogische Begleitung realisiert werden kann.

Welche aktuellen Herausforderungen sehen Sie für die Integration von jungen Geflüchteten und für ihre politische und fachliche Beteiligung – und welche stehen in Zukunft an?

Mit Blick auf die vorangegangenen Ausführungen wird deutlich, dass die Verwirklichung von politischer und fachlicher Beteiligung ein jahrzehntelanger Prozess ist, an dessen Anfang wir stehen. Denn wir müssen uns fragen, inwieweit Kinder und Jugendliche die Erfahrungen aus den Projekten in ihren Lebensalltag übertragen können. Die Antworten darauf fallen unterschiedlich aus, eröffnen jedoch die Möglichkeiten einer nachhaltigen Strategie zur Wirkungsentfaltung. Die Überwindung von Sprachbarrieren steht nicht mehr so im Mittelpunkt, da oftmals wie oben beschrieben die Kinder und Jugendlichen selbst als Sprachvermittler*innen auftreten. Insbesondere bei Kindern und Jugendlichen wirken inklusive Angebotsstrukturen Sprachbarrieren entgegen. Bei neu ankommenden Kindern und Jugendlichen bleibt dieser Bedarf jedoch weiterhin bestehen. Noch immer ist die Verbindlichkeit für Kinder und Jugendliche mit Fluchthintergrund eine große Herausforderung, denn insbesondere Regelmäßigkeit und Kontinuität sind wesentliche Momente einer langfristigen Inklusion. Es gilt einen Blick auf die Strukturen einer komplexen Intersektionalität zu werfen, denn mehrfache Diskriminierung erschwert die Partizipation und Mitbestimmung im Sinne der Inklusionsarbeit.

Parteien mit rechtsorientiertem Gedankengut propagieren Menschenhass, Rassismus und den Ausschluss des „Fremden und Anderen“ und machen ihre Gedanken in einem gesellschaftlichen Narrativ salonfähig. Der gesellschaftliche Diskurs erfährt damit eine Verschiebung nach rechts, was unweigerlich auch Auswirkungen auf die Kinder- und Jugendarbeit hat. Die Bemühungen der Mehrheitsgesellschaft, eine nachhaltige Inklusion von Kindern und Jugendlichen zu unterstützen und weiterzuentwickeln, könnte (weiter) sinken und den so wesentlichen Gedanken eines „Miteinander vielfältig Seins“ in der Begegnung von Kindern und Jugendlichen mit Fluchthintergrund in den Hintergrund treten lassen. Beteiligung muss maßgeblich so organisiert werden, dass alle Menschen, alle Kinder und Jugendlichen daran teilhaben können. Niedrigschwellige Beteiligungsangebote haben insbesondere im Bereich der Inklusion einen hohen Stellenwert. Sprachliche Barrieren, die Chance, die eigene Meinung äußern zu können und dafür auch Zuspruch zu erhalten, sowie Beteiligung ohne große Hürden wie Formalien (Wahlen, schriftliche Abstimmungen, Formulare etc.) sind Herausforderungen, die es zu meistern gilt. Und auch die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Fluchthintergrund könnten die Inklusion und Mitbestimmung weiter fördern.

In der kontinuierlichen Herausforderung die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen im Kontext
In der kontinuierlichen Herausforderung die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen im Kontext von Flucht und Migration mit Blick auf eine langfristige „Integrations“- bzw. in unserem Sinne Desintegrationsaufgabe anzunehmen, liegt jedoch auch die wesentliche Bedeutung, die Anerkennung von Vielfalt und Unterschiedlichkeit als Chance greifbar und anschaulich zu machen.

Stellungnahme AGOT 11. Kinder- und Jugendbericht (PDF)